Der Versicherungsfall in der Grundfähigkeitsversicherung

Das Produkt der Grundfähigkeitsversicherung wird in der Praxis des Vertriebs von Personenversicherungen (leider) viel zu wenig berücksichtigt. Bekannter ist die Berufsunfähigkeitsversicherung, die sich im Leistungsfall mit der noch oder nicht mehr vorhandenen Berufsfähigkeit des VN auseinandersetzt.

Die Grundfähigkeitsversicherung sichert das Risiko nicht mehr vorhandener Grundfähigkeiten ab, wozu unter anderem das Gehen, Treppensteigen, Knien oder Bücken, Stehen, etc. zählt. Ein enumerativer Katalog der versicherten Grundfähigkeiten ist den jeweiligen Versicherungsbedingungen zu entnehmen. Im Leistungsfall müssen je nach Vertrag und Versicherungsbedingungen eine vorher festgelegte Anzahl an Grundfähigkeiten nicht mehr vorliegen. Im Leistungsfall erhält der VN vergleichbare Leistungen wie in der BU oder BUZ, mithin eine monatliche Rentenzahlung und eine Prämienbefreiung während des Leistungsbezugs.

Das OLG Saarbrücken, Urteil vom 09.07.2014 – 5 U 86/13 hatte darüber zu entscheiden, unter welchen Voraussetzungen die Grundfähigkeit „Knien oder Bücken“ nach folgender Formulierung in den AVB anzunehmen ist:

„Knien oder Bücken

Die versicherte Person ist nicht fähig, sich niederzuknien oder so weit zu bücken, um einen leichten Gegenstand vom Boden aufzuheben und sich dann wieder aufzurichten.“

Hier stellte sich für das Gericht die Frage, ob lediglich eine Bewegung, bspw. „niederzuknien“ nicht mehr möglich ist, um den leichten Gegenstand vom Boden aufzuheben und sich dann wieder aufzurichten, um die Grundfähigkeit nicht mehr durchführen zu können oder beide Bewegungen. Das Gericht entschied, dass beide Bewegungen, also „niederzuknien“ und „so weit zu bücken“ nicht mehr für den VN möglich sein müssen, um die Voraussetzungen des Vorliegens der Grundfähigkeit anzunehmen.

Das Gericht begründet seine Annahme in der Auslegung der Klausel „Knien oder Bücken“ der Versicherungsbedingungen vordergründig damit, dass ein durchschnittlicher VN ohne versicherungsrechtliche Spezialkenntnisse diese Grundfähigkeit bei verständiger Würdigung, aufmerksamer Durchsicht und Berücksichtigung des erkennbaren Sinnzusammenhanges so versteht, dass beide Bewegungen nebeneinander nicht mehr durchführbar sind. Sobald durch eine der beiden Bewegungen der leichte Gegenstand noch aufhoben werden kann, ist die Grundfähigkeit nicht beeinträchtigt. In dem Gerichtsverfahren stellte sich heraus, dass der VN sich noch bücken konnte, weswegen das Gericht die Klage abwies.

Die Grundfähigkeitsversicherung ist in seinen Ausprägungen der einzelnen Grundfähigkeiten komplex und im Detail wenig zu durchschauen. In der Praxis der Leistungsprüfung kommt allzu häufig noch die Komponente des vom Grundfähigkeitsversicherer beauftragten Sachverständigen hinzu, der teilweise allzu schnell Grundfähigkeiten bejaht, die tatsächlich gar nicht mehr vorliegen und der Versicherungsnehmer dadurch um berechtigte Leistungen des Versicherers gebracht wird. In einem solchen Fall sollte ein im Versicherungsrecht versierter Rechtsanwalt hinzugezogen werden, idealerweise ein Fachanwalt im Versicherungsrecht.

Markus Kern Rechtsanwalt