Rechtsschutz bei gegenseitigem Abstandsflächenverstoß

Fall:
Ein Bauherr bebaut sein bislang unbebautes Grundstück mit einem Einfamilienhaus. Er hält jedoch den Mindestabstand zur Grenze des Nachbargrundstücks von 3 m nicht ein. Der Abstand zur Grenze beträgt lediglich 2,50 m.
Der Eigentümer des Nachbargrundstücks rügt diesen Verstoß gegen die Abstandsflächen-vorschriften.
Er hat allerdings sein eigenes Einfamilienhaus vor ca. 30 Jahren ebenfalls unter Verstoß gegen den Mindestabstand in einer Entfernung von lediglich 2,40 m zur gemeinsamen Grundstücksgrenze errichtet.

Kann der Nachbar sich gegen die Unterschreitung des Mindestabstandes durch das neue Bauvorhaben zur Wehr setzen?

Nein. Es stellt einen Verstoß gegen das auch im öffentlichen Baunachbarrecht geltende Gebot von Treu und Glauben dar, wenn derjenige Nachbar eine Abstandsflächenunterschreitung rügt, der selbst nicht den erforderlichen Abstand einhält.
Dies gilt nach ständiger Rechtsprechung des niedersächsischen OVG selbst dann, wenn die frühere Abstandsunterschreitung genehmigt ist oder sogar früherem Abstandsrecht entsprach (OVG Lüneburg Beschluss vom 20.10.2014 – 1 LA 103/14; OVG Lüneburg Beschluss vom 12.04.2017 – 1 ME 34/17; VGH München Beschluss vom 01.09.2016 – 2 ZB 14.2605; OVG Nordrhein-Westfalen Beschluss vom 12.02.2010 – 7 B 1840/09).

Die ältere Rechtsprechung war noch davon ausgegangen, dass das Rechtsschutzbegehren eines Nachbarn gegen ein Bauvorhaben nicht gegen den Grundsatz von Treu und Glauben verstößt, wenn die von ihm errichtete bauliche Anlage genehmigt ist (OVG Nordrhein-Westfalen Urteil vom 24.04.2001 – 10 A 1402/98; OVG Rheinland-Pfalz Beschluss vom 29.10.1982 – 1 B 59/81).

Die neuere Rechtsprechung rechtfertigt ihre Ansicht damit, dass es maßgebend auf die tatsächliche Abstandsflächenunterschreitung ankommt, nicht aber auf deren rechtliche Genehmigung bzw. Bestandsschutz. Wenn die von dem Bauherrn verursachte – neue – Abstandsflächenunterschreitung in der Qualität und im Maß mit der ursprünglichen Abstandsflächenunterschreitung im Wesentlichen vergleichbar ist, liegt eine Störung des nachbarlichen Gleichgewichts nicht vor. Deshalb würde es einen Verstoß gegen Treu und Glauben darstellen, wenn trotz einer fehlenden Störung des nachbarlichen Gleichgewichts der Nachbar den neuen, vergleichbaren, Abstandsflächenverstoß des Bauherren abwehren könnte.

Etwas anderes gilt nur dann, wenn der neue Abstandsflächenverstoß des Bauherrn zu schlechthin untragbaren, als baulichen Missstand zu qualifizierenden Verhältnissen führen würde.

Wolfgang Baur Rechtsanwalt