Haben Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzung nachbarschützende Wirkung?

Besprechung des Urteils des BVerwG vom 9. August 2018 – 4 C 7.17

Es ging um ein Grundstück am Wannsee in Berlin.

Der Bebauungsplan aus dem Jahre 1959 setzte zwei Vollgeschosse und eine Baumassenzahl von 1,0 fest.

Der Bauherr erhielt hiervon abweichend von der Stadt einen Bauvorbescheid über die Errichtung eines Gebäudes mit sechs Vollgeschossen und einer Baumassenzahl von 4,30.

Gegen diesen Bauvorbescheid erhob der Eigentümer des Nachbargrundstücks Klage.

Der Kläger hat in allen drei Instanzen gewonnen.

Das Problem bestand allerdings darin, dass sich der Kläger gegen eine dem Bauherrn erteilte Befreiung gemäß § 31 Abs. 2 BauGB gewandt hatte. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kann eine Befreiung von einer nicht nachbarschützenden Festsetzung nur dann mit Erfolg angegriffen werden, wenn der Kläger unzumutbar in seinen Rechten beeinträchtigt wird (Verstoß gegen das Rücksichtnahmegebot).

Diese Voraussetzungen waren vorliegend nicht gegeben.

Demgegenüber führt jeder Fehler bei der Anwendung des § 31 Abs. 2 BauGB zur Aufhebung des Bauvorbescheides, wenn die Befreiung von einer nachbarschützenden Festsetzung eines Bebauungsplans erteilt wird. Die Grenze der Verletzung des Rücksichtnahmegebots muss nicht erreicht werden.

Es kam also vorliegend zunächst darauf an, ob die Festsetzungen bezüglich der Vollgeschosse und der Baumassenzahl nachbarschützende Wirkung hatten.

Das BVerwG stellt zunächst fest, dass Festsetzungen über das Maß der baulichen Nutzung nachbarschützende Wirkung haben können, wenn es dem Willen der Gemeinde als Plangeber entsprach, diesen Festsetzungen nachbarschützende Wirkung zukommen zu lassen.

Hier stellte sich das erste Problem. Der Bebauungsplan datierte nämlich aus dem Jahre 1959. Zu diesem Zeitpunkt hatte der Gedanke des Nachbarschutzes im öffentlichen Recht noch keine Rolle gespielt. Er wurde erst ab den 1960er Jahren entwickelt.

Somit konnten die Festsetzungen bezüglich der Vollgeschosse und der Baumassenzahl gar keine nachbarschützende Wirkung haben, da diese Problematik der Gemeinde als Plangeber damals nicht bekannt war.

Diese Hürde überwindet das BVerwG mit dem Argument, dass es allgemeiner Rechtsüberzeugung entspreche, dass das öffentliche Baurecht nicht in dem Sinne statisch aufzufassen ist, dass es einer drittschutzbezogenen Auslegung unzugänglich wäre. Baurechtlicher Nachbarschutz sei das Ergebnis einer richterrechtlichen Rechtsfortbildung, welche hierbei von einer Auslegung der dafür offenen Vorschriften ausgeht.

Somit war es also grundsätzlich möglich, die im Jahre 1959 getroffenen Festsetzungen über das Maß der baulichen Nutzung nachträglich „subjektiv-rechtlich aufzuladen“.

In der Praxis besteht bei dieser Prüfung regelmäßig die Schwierigkeit, dass es anhand der Unterlagen des Bebauungsplans nur sehr schwer möglich ist, einen entsprechenden Willen der Gemeinde festzustellen. So wäre ein solcher Willen beispielsweise dann anzunehmen, wenn in den Planunterlagen ein ausdrücklicher Hinweis enthalten wäre, dass die Gemeinde die Anzahl der Vollgeschosse deshalb auf zwei festsetzen will, um die Höhe der Gebäude zu beschränken und eine sich hieraus ergebende Verschattung zugunsten der Nachbargrundstücke zu vermeiden

Aber – wie oben erwähnt – der Gemeinde waren die Grundsätze des nachbarlichen Drittschutzes noch nicht bekannt, sodass denknotwendigerweise in den Planunterlagen ausdrückliche Hinweise auf einen Nachbarschutz fehlen mussten.

Hier hat das BVerwG dann auf die Feststellungen der Vorinstanz verwiesen. Das Oberverwaltungsgericht hatte aufgrund der Plankonzeption festgestellt, dass die Festsetzungen über das Maß der baulichen Nutzung in ein wechselseitiges nachbarliches Austauschverhältnis eingebettet waren. Die Maßfestsetzungen waren von wesentlicher Bedeutung für den von der Gemeinde konzipierten Charakter des Plangebietes. Maßgebliche Zielsetzungen seien die Stärkung des Grünflächenanteils, die Gestaltung eines von Bebauung freigehalten Uferbereich und die Beschränkung der baulichen Ausnutzung der Grundstücke insgesamt, wobei diese Planungsziele durch eine Kombination der einzelnen Festsetzungen erreicht werden sollten. Auch die Festsetzungen zur Zahl der Vollgeschosse und der Baumassenzahl sollten zu der spezifischen Qualität des Sondergebiets beitragen und nach dem erklärten Willen des Plangebers der Bewahrung dieses Gebietscharakters dienen.

Die Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzung berührten also vorliegend – anders als sonst – den Gebietscharakter des Plangebietes und wirkten gewissermaßen über die beiden betroffenen Grundstücke hinaus, ähnlich wie Festsetzungen zur Art der baulichen Nutzung, die nachbarschützend sind.

Somit war auch den Festsetzungen über das Maß der baulichen Nutzung bezüglich der Vollgeschosse und der Baumassenzahl nachbarschützende Wirkung beizumessen.

Folge hiervon ist, dass auch ein objektiver Verstoß gegen die Voraussetzung des § 31 Abs. 2 BauGB zur Aufhebung des Bauvorbescheides führt. Dies hat das BVerwG bejaht, da die Grundzüge der Planung im Sinne des § 31 Abs. 2 BauGB berührt waren.

Festzuhalten bleibt also, dass das BVerwG nicht allgemein judiziert hat, dass Festsetzungen bezüglich des Maßes der baulichen Nutzung künftig kraft Bundesrechts nachbarschützende Wirkung haben. Vielmehr hat das BVerwG darauf abgestellt, dass nach den Feststellungen der Vorinstanz die Festsetzungen über das Maß der baulichen Nutzung in ein wechselseitiges, die Planbetroffenen zu einer rechtlichen Schicksalsgemeinschaft verbindenden, Austauschverhältnis eingebettet waren.

Insoweit war es folgerichtig, den Festsetzungen nachbarschützende Wirkung beizumessen.

Dennoch erscheint es nunmehr etwas leichter, bei Festsetzungen des Maßes der baulichen Nutzung eine nachbarschützende Wirkung anzunehmen. Denn es ist nicht mehr zwingend erforderlich, in den Planunterlagen ein Dokument ausfindig zu machen, welches sich explizit auf den Schutz eines Nachbarn bezieht. Ausreichend – aber auch erforderlich – ist es, darzulegen, dass zwischen den Planbetroffenen eine Beziehung existiert, die auf Gegenseitigkeit angelegt ist und die zur Bewahrung des Gebietscharakters verpflichtet, aber auch berechtigt und dass die betreffenden Festsetzungen in dieses Austauschverhältnis eingebettet sind.

Damit dürfte auch einem Einwand der Gemeinde der Boden entzogen sein: Diese könnte für Bebauungspläne ab den 1960er Jahren argumentieren, dass ein Schweigen der Planunterlagen bezüglich des Nachbarschutzes ein sogenanntes beredtes Schweigen darstellt. Wenn der Plangeber trotz des vom BVerwG entwickelten Drittschutzes hierzu schweigt, sollte der Festsetzung eben auch keine nachbarschützende Wirkung zukommen. Eine anderweitige Auslegung war nicht mehr möglich. Diese Argumentation kann jetzt nicht mehr greifen, wenn der Bebauungsplan ein gegenseitiges Austauschverhältnis in obigem Sinne regelt.

Wolfgang Baur Rechtsanwalt